Im Jahr 1992 gab es in Deutschland noch etwas mehr als 500.000 Freiberufler:innen. Im Jahr 2023 waren es 1,4 Millionen. Man kann sagen: Die Zahl derer, die sich nicht fest an ein:e Arbeitgeber:in binden wollen, ist explodiert. Es gibt viele gute Gründe, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Nicht einem Chef oder einer Chefin hörig sein zu müssen, ist sicher einer. Das zu tun, was man wirklich tun will, ein anderer. Aber was bringt es einem Arbeitsmarkt wirklich, wenn sich so viele Leute nicht mehr in feste Jobs zwängen lassen? Wir haben mit einem darüber gesprochen, der es wissen muss: Christoph Hardt, dem Chef der Freelancer-Plattform Malt.
robotspaceship: Warum setzen immer mehr Unternehmen auf Freelancer:innen, habt ihr da eine Idee?
Christoph Hardt: Absolut! Das liegt vor allem an der zunehmenden Spezialisierung von Jobs.
Kannst du ein Beispiel geben?
Stell dir vor, du brauchst in deinem Unternehmen Search-Engine-Advertising. Vor einigen Jahren hattest du noch eine:n Generalist:in im Büro sitzen, der:die das Marketing für dich gemacht hat. Jetzt musst du aber auf Google auffindbar sein. Und da brauchst du einen Search Engine Analytiker, der Google Analytics aufsetzt, der irgendwie ausrechnet, wie die verschiedenen Conversion-Punkte sind. Das heißt, du brauchst Texter:innen, die gute, kurze und knackige Advertising-Texte schreiben. Du brauchst vielleicht auch richtige Texter:innen, weil du SEO langfristig über SEA ablösen willst. Und dann hast du auf einmal sehr, sehr viele verschiedene und vor allem sehr spezifische Job-Profile, die eine Person gar nicht mehr abbilden kann. Dann stellt man sich als Unternehmen natürlich die Frage, ob ich all diese verschiedenen Leute einstellen muss, die dann aber nur zwei Stunden am Tag was zu tun haben – oder ob ich auf Freelancer:innen setze. Die Antwort ist dann doch ziemlich eindeutig.
Gilt das für alle Branchen?
Das gilt vor allem für die Unternehmen, die keine riesigen Corporates sind und dementsprechend haushalten müssen. Wir haben das mal die “Wiederkehr des Taylorismus” genannt – die Arbeitsteilung wird immer größer. Es gibt immer mehr Spezialgebiete. Aber es gibt auch noch einen weiteren Grund.
Welchen?
Viele Unternehmen arbeiten von Projekt zu Projekt. Wer da auf Freiberufler:innen setzt, muss zum einen nicht extra neues Personal einstellen, am Ende eines Projektes im Zweifel aber auch niemanden entlassen. Der dritte Grund ist, dass sich die Innovationsspirale immer schneller dreht. Nehmen wir das Beispiel KI – viele Unternehmen müssen jetzt erst einmal herausfinden, wie sie damit arbeiten können. In dieser Phase ist es vielleicht noch gar nicht nötig, sich jemanden fest in die Firma zu holen.
Heißt: Freiberufler:innen bringen dir flexibel und kostengünstiger Know-how ins Haus?
Absolut. Stell dir vor, du brauchst sechs Monate, um eine Stelle zu besetzen. Das war in der Vergangenheit oft der Fall, vor allem 2021 und 2022. Da sind Freelancer natürlich ein super Mittel, um Ressourcenengpässe zu überbrücken.
Dann gibt es ja auch noch die andere Seite, das sind die Freiberufler:innen selbst. Das werden ja auch immer mehr. Warum?
Statista sagt, dass in Europa jetzt schon rund 25 Prozent der Arbeitnehmer:innen freiberuflich arbeiten. In Deutschland ist die Zahl niedriger. Aber es gibt viele Branchen, in denen wir seit Jahrzehnten einen Arbeitnehmermarkt haben. Das heißt, dass sich die Leute aussuchen konnten, wo sie arbeiten. Dann haben sich viele dafür entschieden, flexibel zu arbeiten. Außerdem kann man auch mehr Geld verdienen.
Welche Branchen sind das?
Ganz klassisch: die IT. Und die zeigt den anderen Branchen gerade den Weg.
Also insgesamt in Zukunft mehr Freiberufler:innen?
Davon gehe ich aus. Wir haben vor einiger Zeit eine Umfrage unter den Freiberufler:innen auf unserer Plattform gemacht – die ergab, dass es vier Gruppen gibt.
Welche sind das?
Die erste und kleinste Gruppe haben wir die Nostalgiker:innen genannt. Die wären eigentlich gerne nicht Freelancer:in, sind aber gekündigt worden und haben darin dann einen Notnagel gesehen. Dann gibt es die, die Familienzeit in den Vordergrund stellen. Das waren also oft Leute zwischen 30 und 40, die oft kleine Kinder haben und sagen, dass sie mehr Flexibilität brauchen. Dann gibt es die, die sehr entrepreneurial unterwegs sind und sagen, dass sie eigentlich nicht nur gerne freiberuflich arbeiten, sondern gründen wollen. Die arbeiten freiberuflich, weil ihnen das die Zeit lässt, ihr Unternehmen aufzubauen. Die letzte Gruppe ist die, die glaubt, als Freiberufler:in mehr Geld verdienen zu können. Wer 800 bis 1000 Euro Tagessatz nehmen kann, verdient natürlich mehr als in einer Festanstellung, wenn er:sie 250 Tage im Jahr gebucht ist.
Ihr bei Malt vermittelt Freiberufler:innen und Unternehmen. Wo liegen da die größten Pain Points?
Je nachdem, wen man fragt, ist das unterschiedlich. Für Freiberufler:innen ist das größte Hindernis, ständig neue Projekte zu akquirieren. Am Ende eines Projektes, dann, wenn man sich eigentlich schon um das nächste kümmern müsste, hat man keine Zeit dafür. Das heißt, man droht dann in ein finanzielles Loch zu fallen. Der zweite größere Faktor ist aber, dass es an der strategischen Karriereentwicklung fehlt. In einem Unternehmen macht man immer den nächsten Schritt, anhand dieser Entwicklung glauben dir die Leute, dass du deine Arbeit kannst. Diese Reputation fehlt vielen Freiberufler:innen, auch wenn sich die meisten von ihnen permanent selbst weiterentwickeln, ob in Seminaren oder Coachings.
Weil Unternehmen das besser dokumentieren?
Ja, genau! Außerdem kümmern sich Unternehmen um die Weiterbildung ihrer Leute, es gibt zum Beispiel Zertifizierungen und so weiter. Im Unternehmenskontext ist das inzwischen richtig institutionalisiert – das gibt es bei Freelancern in der Form nicht.
Lass uns doch mal ein bisschen in die Zukunft reisen. Du sagtest, dass in der EU jetzt schon rund 25 Prozent aller ITler:innen freiberuflich arbeiten – wie wird das in 10 Jahren aussehen?
Wenn man sich die vergangenen Jahre ansieht, dann fällt auf: Der Anteil derer, die freelancen, ist stetig gewachsen. Es hat da keine großen Sprünge gegeben. Aber es war ein kontinuierliches Bergauf.
Bleibt das so?
Ja, ich gehe davon aus, dass der Trend nicht abreißen wird.
Woran machst du das fest?
Wenn wir uns liberalere Arbeitsmärkte ansehen, dann stellen wir fest: Dort ist der Anteil an Freelancer:innen höher als bei uns. Also in den USA und Großbritannien. Gleichzeitig können wir sehen, dass in der Gen Z der Anteil ebenfalls höher ist. Daraus können wir zwei Trends ablesen: je moderner der Arbeitsmarkt, desto mehr Freiberufler:innen. Und: Die junge Generation ist noch affiner, was das Thema anbelangt – das wird sich ja nicht ändern.
Deutschland scheint allerdings nicht so richtig für die Freiberuflichkeit gemacht zu sein. Es gibt viele Hürden. Was müsste sich hier ändern, damit es leichter wird?
Man kann zum Beispiel steuerlich einiges einfacher machen. Das größte Problem ist aber, dass man schnell in die Scheinselbsttätigkeits-Falle gerät. Und da gibt es leider nicht einfach “die” fünf Tipps, und wenn man sich an die hält, ist alles gut. Doch: Du kannst dich anstellen lassen, dann kannst du nicht scheinselbständig sein. Das ist aus meiner Sicht ein riesiges Problem. Vor allem, wenn man sich den Trend anschaut, dass immer mehr Menschen selbständig arbeiten.
Was sollte da passieren?
Wir leben in einer Zeit, in der der Fachkräftemangel eines unserer größten Probleme ist. Das heißt, wir sollten alles dafür tun, dass der Arbeitsmarkt möglichst flexibel ist. Das heißt nicht, dass wir dadurch prekäre Verhältnisse zulassen dürfen – wenn jemand aber aus freien Stücken selbständig arbeitet und gut verdient, sollte das immer möglich sein.
Wer ist Christoph Hardt
Dr. Christoph Hardt ist CEO des Freelancer Marktplatzes Malt, auf dem rund 500.000 freiberufliche Expert:innen ihre Fähigkeiten und Kenntnisse für Organisationen jeder Größe zur Verfügung stellen. Zuvor gründete er Comatch, den Marktplatz für freiberufliche Unternehmensberater:innen und Industrieexpert:innen. Christoph war fast 8 Jahre bei dem international führenden Beratungsunternehmen McKinsey & Company tätig, wo er vor allem Marketing- und Vertriebsprojekte für Kunden aus der Energie- und Chemiebranche verantwortete und durchführte.